„Ich würde Ihnen gerne etwas vorspielen, lieber Herr Bergmann.“ Professor Odenthal sitzt aufrecht in seinem Krankenbett, schnürt seinen beige-braunen Bademantel und strahlt mich an. Erschöpft von den starken Phantomschmerzen, die mich wieder durch die Nacht begleitet haben und auch nach dem Frühstück weiter foltern, höre ich nur halb hin und setze aus Gewohnheit den fragenden Blick auf.
„Es handelt sich um ein Klavierkonzert eines von mir ganz besonders geschätzten russischen Komponisten.“ Der Professor schaut mich an, wie er früher vermutlich seine Studenten angeschaut hat, wenn sie dringend seine professionelle Nachhilfe brauchten. Ein russischer Komponist? Dieses Stichwort erinnert mich an Ferientage bei meiner Patentante Anni, aus deren Stereoanlage von morgens bis abends klassische, darunter auch russische Musik durch die Wohnung hallte, Musik, die wir Kinder bald schon zu großen Teilen auswendig mitsummen konnten. Wenn diese Russen ihrer mystischen melancholischen Grundstimmung in der Musik Ausdruck verleihen, dann, so habe ich den Eindruck gewonnen, können sie sich so gut wie alles leisten, was sich in ihnen verborgen hält, von melodischer Leichtigkeit über ein lyrisches Pathos bis hin zu depressivem Herzschmerz.
Professor Odenthal unterbricht meine Gedanken mit einer Frage. „Darf ich mich erkundigen, Herr Bergmann? Kennen Sie Rachmaninow, Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow?“ Wie sich der Professor ausdrückt! ‚Darf ich mich erkundigen, Herr Bergmann?‘ Wer redet denn heute noch so abgehoben, verwendet so gestelzte, geradezu literarische Formulierungen?! „Aber nur sehr oberflächlich“, antworte ich ihm trotzdem und merke gleich darauf, dass das ein Fehler war. Denn damit habe ich dem musikalischen Philologen natürlich eine perfekte Vorlage gegeben und ihm zur Aufgabe gemacht, mir einen längeren fachkundigen Vortrag zu halten. „Sergei Rachmaninow war ein russischer Komponist, gleichzeitig Klaviervirtuose und Dirigent, dessen Symphonien und Klavierkonzerte auch heute noch weit über Russlands Grenzen hinaus eine große Bedeutung haben.“
Ich versuche zuzuhören, aber da auch meine Phantomschmerzen gerade weit über das Erträgliche hinaus ebenfalls eine große Bedeutung haben, drehe ich mich zur Seite, schließe die Augen und senke den Kopf auf meine Brust. In diesen Momenten, in denen mich die starken Schmerzen in beiden Beinen fast bis zur Besinnungslosigkeit quälen, will ich, unfähig zu irgendeinem Dialog, einfach nur alleine sein. Das ist im Moment leider unmöglich in einem Zwei-Bett-Zimmer mit Professor Odenthal und mit diesem russischen Rachmaninowski.
„Wenn Sie mögen, lieber Herr Bergmann, werde ich Ihnen eines seiner bekanntesten Stücke, das ‚Adagio sostenuto‘ aus dem 2. Klavierkonzert Opus 18 in C-Moll vorspielen. Rachmaninow hat es in den Jahren 1900/1901 komponiert und es wurde am 27. Oktober 1901 in Moskau uraufgeführt.“ Einen Moment bitte, soll ich mir jetzt allen Ernstes diese vielen Zahlen merken? Was zum Teufel interessiert mich an diesem Morgen ein russischer Komponist, dessen Name in meiner Halbbildung bisher nur am Rande vorgekommen ist. Bedrängt von den höllischen Schmerzen habe ich nur irgendwas von einem ‚Adagio Soundso‘ mitbekommen, kann aber immerhin den Kopf wenden und nicke meinem Zimmernachbarn vorsichtig zu.
Professor Odenthal scheint meine verkrampfte Körperhaltung nicht zu bemerken. Er ist nun in seinem Element und auf dem Weg zu seinem alten CD-Spieler sucht er sämtliche kompositorischen Details des Klavierkonzerts aus seiner Erinnerung zusammen. „Sie werden sehen, Herr Bergmann, beziehungsweise Sie werden hören, dass das erste Thema in Takt 9 beginnt, die Querflöte stellt es vor, die Klarinette übernimmt es und das Klavier verharrt in einer begleitenden Funktion. Ab Takt 24 dann tauschen Solist und Orchester die Rollen. In Takt 47 tritt ein weiteres, etwas leidenschaftlicheres Thema in Moll hinzu, das sowohl das Orchester als auch das Klavier durchführen. Abgerundet wird der Satz dann durch das Aufgreifen des ersten Themas, mit dem er auch beschlossen wird.“
Professor Odenthal hält mich offenbar für einen musikalischen Vollblutprofi, einen echten Musik-Experten in klassischer Komposition. Nett gemeint, da bin ich mir sicher, aber leider sprechen wir hier von einer kompletten Fehleinschätzung. Während seines druckreifen Vortrags hat er die CD eingelegt, muss mir aber vor dem Abspielen unbedingt noch mitteilen, dass der US-amerikanische Songwriter Eric Carmen das Thema für den Song ‚All by myself‘‘ übernommen hat und dass Fragmente des Themas bei Billy Joel in seinem Song ‚Honesty‘ zu hören sind.
Immer noch durchlöchert vom Schmerz habe ich die letzten Erläuterungen nur halbwegs wahrnehmen können und bin jetzt mehr als dankbar für die rund zehnminütige Erholungspause, die mir der 2. Satz dieses Klavierkonzerts von Herrn Rachmaninow gewähren wird. Professor Odenthal hat unterdessen den Abspielknopf gedrückt und ganz hingegeben auf seinem Bett Platz genommen. Nach einem sehr leisen Intro höre ich eine Querflöte spielen, dann eine Klarinette, dann das begleitende Klavier. Kurz darauf bin ich eingeschlafen.