Plácido Domingo

In einer viele Jahre alten Aufzeichnung schmettern sich die drei Tenöre bei 3Sat durch das TV-Abendprogramm. Aus dem Trio Pavarotti, Carreras und Domingo gefalle ihm Letzterer am besten, sagt Professor Odenthal, weil er das meiste Kolorit und die größte Wärme in seiner Stimme habe. Für mich natürlich kein Grund zu widersprechen. Sondern zu erzählen, von einem Treffen mit Plácido Domingo vor mehr als 20 Jahren.

Ich lerne ihn im Frühling 1994 in der Wiener Staatsoper kennen. Der große Opernstar unterbricht für eine halbe Stunde die Proben zu Vincenzo Bellinis „I puritani“, einer romantischen Oper, bei der er diesmal nicht als Tenor, sondern als Dirigent mitwirkt. Im ersten Obergeschoss führt er mich in eine herrschaftliche Loggia, und während das Kamerateam noch alles Notwendige für unser Interview aufbaut, hat mein spanischer Gastgeber offenbar schon große Lust zu erzählen.     

„Vor ziemlich genau 27 Jahren war ich zum ersten Mal hier in der Wiener Staatsoper und spielte und sang den Don Carlos in Verdis berühmter Oper. Ich war damals 26 Jahre alt und hatte mir im Jahr zuvor mit einem Auftritt in der New York City Opera als Don Rodrigo in der Oper von Alberto Ginastera international einen Namen gemacht.“ 

Ich staune über seine offene, fast freundschaftliche Art dem fremden deutschen Journalisten gegenüber, und von Anfang fühle ich mich sehr wohl in seiner Gegenwart. Plácido Domingo spricht sehr lebhaft, seine Arme sind ständig in Bewegung, und ich habe den Eindruck, dass er alles Erzählte auch Jahre danach noch einmal sehr intensiv nacherlebt.

Meine Aufgabe ist es, ihn zur kommenden Fußball-Weltmeisterschaft in den USA zu befragen, bei der das deutsche Team unter Berti Vogts in der Gruppenphase auf Spanien treffen wird. Als leidenschaftlicher Fußballfan erklärte sich Domingo nach meiner schriftlichen und telefonischen Voranfrage sofort bereit, ein rein sportliches Interview zu geben. Dass unsere Unterhaltung schließlich fast eine Dreiviertelstunde und nicht, wie vorher vereinbart, 15 Minuten dauert, liegt vor allem an seiner wortreichen Begeisterung für den Fußballsport. Seiner Einschätzung nach werden sich die spanische und die deutsche Mannschaft in der Vorrundengruppe C problemlos gegen Bolivianer und Koreaner behaupten. Dabei traut er dem ‚Defensor del titulo‘, dem Titelverteidiger aus Deutschland, noch mehr zu als seiner spanischen ‚Selección nacional‘, mindestens das Halbfinale sei für beide Teams möglich.        Tatsächlich stehen sowohl Spanien als auch Deutschland gut drei Monate später unmittelbar vor dem Einzug ins Halbfinale, verlieren aber beide ihre Spiele in der Runde der letzten Acht mit 1:2, Spanien gegen die Italiener und die Deutschen gegen Bulgarien. 

Ich werde nie vergessen, wie leidenschaftlich sich Plácido Domingo von seiner ‚Selección espanola‘ vor allem erhofft, dass sie die zum Teil regelrecht verfeindeten Volksgruppen, insbesondere Basken, Galizier, Katalanen und Andalusier, in einer großen gemeinsamen Begeisterung zusammenführen möge. Ob das dem Team unter dem knorrigen baskischen Trainer Javier Clemente damals gelungen ist, wage ich nicht zu beurteilen.

Dagegen kann ich ganz sicher sagen, dass José Plácido Domingo Embil zu den wenigen Menschen zählt, die einen Raum mit ihrer bloßen Präsenz bis in die hinterste Ecke ausfüllen.  Noch immer hängt sein Foto über meinem Schreibtisch. Mit dem Zusatz „Für Marcel, in sportlicher Freundschaft“ hat er es damals in fehlerfreiem Deutsch unterschrieben, dieses musikalische Multitalent, dieser große spanische Tenorsänger, dem zu begegnen für mich bis heute einer dieser ganz besonderen Momente geblieben ist.

(Dass ihm, Plácido Domingo, nun im Zuge der ‚Me too‘-Bewegung plötzlich von einer wachsenden Anzahl auskunftswilliger Frauen ‚sexuelle Belästigungen‘ vorgeworfen werden und er daraufhin von seinen Auftritten in der New Yorker ‚Metropolitan Opera‘ und der Oper in Los Angeles Abstand genommen hat, kann das positive Bild, das ich damals von ihm gewonnen hatte, nicht grundlegend verändern. Zumal er sich von diesen Vorwürfen wie ein spanischer Gentleman distanziert hat. Er empfindet diese Vorwürfe als „beunruhigend“ und „unzutreffend“, räumt jedoch ein, „dass die Regeln und Standards, an denen wir […] gemessen werden, heute sehr andere sind als früher“. Ich vertraue Plácido Domingo, weil ich ihm eine Herzlichkeit und eine Körperlichkeit unterstelle, wie sie in südeuropäischen Ländern völlig normal ist und die nun im Zuge der ‚Me too‘-Debatte sehr schnell als ‚sexuelle Nötigung‘ interpretiert wird. Sämtliche Anschuldigungen liegen zudem viele Jahre zurück, und es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich rückblickend nicht seine eigene Interpretation gelebter Eindrücke und Ereignisse ganz subjektiv zusammenstellt. Solange nichts eindeutig bewiesen ist, bleibt Plácido Domingo für mich eine herausragende Erscheinung!).