Wenn nicht jetzt, wann dann? Erinnerungen an Boris Becker, den ich in meiner Rolle als Redakteur des ZDF zum ersten Mal am 5. November 1993 treffe.
Boris hat beim Turnier in Paris-Bercy am Freitagabend im Viertelfinale sein Match gegen den Franzosen Arnaud Boetsch überraschend in drei Sätzen verloren. Trotz der Niederlage zeigt er sich bereit, uns nach der Pressekonferenz noch ein exklusives Eins-zu-Eins-Interview zu geben. Für meinen Sportstudio-Bericht am folgenden Abend ist dieses Interview enorm wichtig. Denn ich möchte fernab der typischen Pressekonferenzfragen zum verlorenen Match ein anderes Bild von Boris Becker erkunden, und meine Fragen wären in der rund zehnminütigen allgemeinen PK ziemlich fehl am Platze gewesen.
Am Morgen ist mir in einem kleinen Café unweit des ‚Centre Pompidou‘ bei der Frühstücks-Lektüre der ‚L’Equipe‘, der täglich erscheinenden französischen Sportzeitung, eine kleine Karikatur ins Auge gesprungen. Sie zeigt Boris Becker, ausgerüstet im Künstler-Outfit mit Staffelei, Leinwand und Pinsel, als Ebenbild des Malers Vincent van Gogh, wobei der Pinsel in Form und Größe eine auffallende Ähnlichkeit mit einem Tennisschläger hat. Einfallsreich und gut gemacht wirkt diese Karikatur auf mich, originell und amüsant, zur Weiterverwendung geradezu prädestiniert. Als dann am Abend mein Kamerateam vom ZDF nach der offiziellen Pressekonferenz sein Equipment aufgebaut hat und der dreimalige Wimbledonsieger mir gegenüber Platz nimmt, spüre ich eine ungewohnt große Nervosität. Deutschlands bekanntester und meistverehrter aktiver Sportler nimmt sich Zeit und wird von mir für das ZDF-Sportstudio interviewt. Das ist fast wie die Erfüllung eines Kindheitstraumes, wie 6 Richtige im Berufslotto. Ich reiche dem damals 25jährigen die Zeitung und deute auf die kleine Karikatur, die sich offenbar über die Ähnlichkeit von Becker und van Gogh in Bartwuchs, Haarschnitt und Haarfarbe lustig macht. Ich muss noch einmal tief Luft holen, bevor ich dann meine allererste Frage an den deutschen Superstar wage.
Ich möchte gerne von Boris Becker wissen, ob er diesem Vergleich mit dem niederländischen Impressionisten, der vor allem mit der ähnlichen äußeren Erscheinung spiele, ob er diesem Vergleich auch insoweit zustimmen könne, als sie beide, van Gogh und Becker, von ihren Zeitgenossen nicht so geschätzt worden seien wie sie es sich gewünscht hätten?
Schon während meiner Frage zeigt mir Becker, offensichtlich amüsiert von der Karikatur, ein breites Grinsen, und als der Name des berühmtem Malers fällt, greift sich der berühmte Tennisspieler an sein linkes Ohr und zieht daran.
Auch ich muss lachen und unterbreche meine Frage mit dem Hinweis, dass bei Becker, im Gegensatz zu van Gogh, beide Ohren Gott sei Dank noch dran seien.
In seiner Antwort, die ihm Spaß zu machen scheint, will Becker eine gewisse Gemeinsamkeit nicht ausschließen, gibt aber zu bedenken, dass er durch den Erfolg in seinem Beruf ganz anders entschädigt wird als van Gogh, der stets am Rande des Existenzminimums leben musste.
In meiner letzten Frage will ich dann noch von ihm erfahren, inwieweit die baldige Geburt seines ersten Kindes die Einstellung des Tennisspielers Becker zu seinem Sport beeinflussen, vielleicht sogar grundlegend verändern könnte.
Auch für diese Antwort lässt er sich auffallend viel Zeit, gibt zu, wie sehr er sich auf sein erstes Kind freut, für dessen Zur-Welt-kommen nun allerdings einzig und allein seine Ehefrau Barbara größere Anstrengungen unternehmen müsse. Doch auch als glücklicher Familienvater würde er in erster Linie der Tennisspieler Boris Becker bleiben, denn ohne professionelles Tennis in der Weltspitze könne er sich sein Leben im Moment noch nicht vorstellen.
Als wir uns dann voneinander verabschieden, fragt mich Boris Becker beim Shakehands nach meinem Namen. Ich muss kurz schlucken. Ein solch großes Kompliment nach unserem ersten Interview hätte ich niemals erwartet.
„Bergmann, Marcel Bergmann“, antworte ich ihm kurz und knapp, fast ein wenig verlegen, gerade weil ich unbedingt vermeiden will, dass er meine Befangenheit bemerkt. So war das also damals im November 1993 bei meiner ersten Begegnung mit Deutschlands damaligem sportlichem Nationalhelden.
Seitdem ist viel Zeit vergangen und vieles ist passiert. Inzwischen hat Becker es zeitweise zum Weltranglistenersten, also zum weltbesten Tennisspieler der Branche gebracht, hat nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Wäschekammer eines Londoner Hotels im richtigen Moment sein Bestes gegeben, mit insgesamt drei verschiedenen Frauen vier gesunde Kinder gezeugt und vor einigen Jahren mit dem Serben Novak Djokovic, der langzeitigen Nummer 1 im Welttennis der Herren, einen Vertrag als Coach und als Berater abgeschlossen, der allerdings nach vielen gemeinsamen Erfolgen überraschend aufgelöst wurde. Doch zurück zu einem anderen wichtigen Treffen mit Deutschlands Tennis-Helden. Kurz nach der öffentlichen Bekanntgabe dieser vielbeachteten Allianz mit Djokovic Ende 2013 hat ihn das ZDF-Sportstudio als Gast eingeladen, um mit ihm über das Zustandekommen und über die Ziele dieses neuen Becker’schen Lebensabschnitts zu sprechen. Zufällig bin ich in dieser Woche der sogenannte ‚Filmrechercheur‘, soll heißen der Redakteur, der die Zuspielteile für die Gespräche des Moderators mit den Studiogästen erstellt.
Für den Auftritt von Becker hat man mir aufgetragen, seinen Weg vom Wimbledonsieger 1985 bis zum Djokovic-Coach in einer Beitragslänge von knapp drei Minuten mit allen wichtigen Aufs und Abs nachzuzeichnen. Aus journalistischer Sicht ist klar, dass in dem Beitrag neben den sportlichen Aktivitäten auch die von der Regenbogenpresse so heißbegehrten privaten Fehltritte des viermaligen deutschen ‚Sportler des Jahres‘ vorkommen müssen. Zu den unbedingt zu erwähnenden Dingen zählt dabei für mich unter anderem auch Beckers Auftritt im Oktober 2013 bei RTL in der ‚Oliver Pocher Show‘.
In dieser klamaukigen Freitagabendsendung sollten sich Prominente mit völlig idiotischen Spielchen zum Affen machen. Und warum auch immer, das tat Becker auch, er machte sich zum Affen. In einem Duell mit Pocher musste er Minifußbälle mit an den Ohren befestigten Fliegenklatschen ins gegnerische Tor befördern. Der ‚Stern‘ verglich diese ziemlich peinliche Aktion damals mit der von Dieter Bohlens Ex-Freundin Nadja ab del Farrag, die sich ihre linke Brust wiegen ließ, damit sich die Kandidaten über das Gewicht der rechten Brust die Köpfe zerbrechen konnten.
Doch zurück zu Becker und den Fliegenklatschen. Da es uns von der RTL-Rechteabteilung verwehrt wird, bewegte Bilder der ‚Pocher-Show‘ zu kaufen, muss ich mich mit zwei Fotos begnügen, die Becker in seiner lächerlichen Montur zeigen und die ich insgesamt fünf Sekunden lang in meinen Beitrag einbaue.
Rund eine Stunde vor Sendungsbeginn treffe ich Boris Becker gegen und seinen für Pressekontakte zuständigen Begleiter gegen 22 Uhr in unserer Lounge, in der sich Studiogäste vor und nach ihrem Auftritt entspannen und beköstigen lassen können.
Unter anderem wegen meines schweren Unfalls sind wir uns sicher seit mehr als 10 Jahren nicht mehr begegnet. Da ich möchte, dass Becker mich als den Autoren des Zuspielteils wiedererkennt, habe ich zwei alte Fotos mitgebracht, eines von unserer ersten Begegnung 1993 in Paris und ein zweites von einem Interview im Sportstudio nach seinem Sieg bei den Australian Open 1996.
Unser Wiedersehen ist freundlich. Als ich mich nach einem sympathischen rund fünfminütigen Wortwechsel dann gerade verabschieden möchte, fragt Becker, vermutlich aus Erfahrung misstrauisch geworden, plötzlich noch nach dem ungefähren Inhalt meines Beitrags. Insbesondere will er wissen, ob auch sein Fliegenklatschen-Auftritt darin vorkommen wird. Dass ihm diese Bilder, für die er von nahezu allen deutschen Printmedien mit Hohn und Spott überschüttet worden ist, nicht gefallen werden, ist mir klar. Doch gehören sie auf jeden Fall in ein Porträt, in dem die Höhen, aber genauso auch die Tiefen seines Lebens Erwähnung finden müssen, um dem Studiogespräch mit Becker so viel journalistische Nahrung wie möglich zu liefern.
So weit, so gut. Boris Becker aber, als ich das Auftauchen seines Gastspiels bei Pocher in meinem Beitrag bejahe, reagiert verärgert, wird laut und verbietet sich, dass auch nur ein einziges Foto gezeigt wird, ansonsten seine Reise zum ZDF nach Mainz hier und jetzt beendet wäre. Auch nachdem ich ihm, um ihn zu beruhigen, erklärt habe, dass mein Text zu den beiden Fotos ganz sachlich und ohne jede Ironie gefasst sei, bleibt er bei seiner ultimativen Forderung, steht entrüstet auf und verlässt wütenden Schrittes den Raum.
Daraufhin versuchen die drei Zurückgelassenen, die Leiterin der Sendung, Beckers Begleiter und ich, einen für alle einigermaßen verträglichen Kompromiss zu finden, der dann schließlich so aussieht, dass er diesen Namen nicht verdient und die beiden Fotos aus meinem Beitrag herausgenommen werden müssen.
Nachdem ich diese ‚Lösung‘ dann in einem unserer Schneideräume in Absprache mit dem Cutter auf ‚Anweisung von oben‘ hin umgesetzt und meinen Text gekürzt und neu vertont habe, rolle ich noch einmal zurück zur Gäste-Lounge, um mich wenigstens versöhnlich von Becker zu verabschieden.
Als ich aufschaue, kommen sie mir schon auf dem Weg in Richtung Studio entgegen, meine Kollegin, Boris Becker und sein Begleiter. Während Letzterer mir zum Abschied mit ein paar netten Worten die Hand reicht, schaut Becker erhobenen Kopfes beim eiligen Vorbeigehen nur geradeaus und ignoriert mich völlig. Dass er diese provokative Gebärde eines stolzen Hahnes mit Absicht gewählt hat, lässt sich leicht erraten, aber ich fühle mich trotzdem nicht schuldig im Sinne der Anklage. Was ich aber fühle, ist eine gewisse Enttäuschung darüber, dass das, was vor rund 20 Jahren in Paris-Bercy so vielversprechend begonnen hat, nun ein so bedauerliches Ende nimmt.
Doch ist mir eines ganz wichtig: Wenn sich Boris Becker heute, etwa in der Tennis-Live-Berichterstattung oder in Fernsehshows, wieder häufiger in der Öffentlichkeit zeigt, dann erlaube ich mir, mich für ihn mitzufreuen vor allem darüber, dass sich einer der ganz großen deutschen Sportler auch in seinem kritischen Heimatland inzwischen wieder ein deutlich positiveres Image erworben hat. ‚Advantage Becker!‘ Und lang anhaltender Applaus!