„Was sich gerade vor der Zufahrt zur Kantine abspielt, erinnert mich an eine Szene, die meine Frau und ich vor vielen Jahren bei einem Frankreichurlaub in Collonges-au-Mont-d’or miterleben durften.“
Der Professor steht am Fenster und zeigt mit dem ausgestreckten rechten Arm über die Terrasse in Richtung Lieferantenzugang, den ich von meinem Bett aus zwar nicht einsehen kann, aber ich bin trotzdem in der Lage mir vorzustellen, wie es aussieht, wenn die Zutaten für das Küchenessen von den Gemüse- und Fleischmärkten angeliefert werden.
‚Collonges-au-Mont-d’or‘! Ich muss nicht lange nachdenken, um zu wissen, wovon der Prof da spricht. „Wow, Sie waren also zu Besuch beim großen Paul Bocuse!“
Der Professor lächelt mir zu. „Es war schon seit Langem der Wunsch meiner Frau gewesen, den König der Köche irgendwann einmal in seinem berühmten Restaurant unweit von Lyon zu besuchen. Und als sich ihr fünfzigster Geburtstag ankündigte, nahm ich diesen besonderen Tag zum Anlass, ihr diesen großen Traum zu erfüllen. Ich musste einige Male nach Collonges telefonieren, ehe ich den zum ‚Koch des Jahrhunderts‘ gekürten Monsieur Bocuse tatsächlich selber am Telefonhörer hatte. Auf meine Bitte hin sagte er mir zum gewünschten Termin die Reservierung eines der wenigen von ihm persönlich betreuten Tische zu.“
Professor Odenthal strahlt, und seine Erinnerung kennt sogar noch die Einzelheiten. „In den schönen typisch französischen Räumlichkeiten sind meine Frau und ich in eine andere Welt eingetaucht, vielleicht auch weil wir wussten, dass wir einen kulinarischen Wallfahrtsort betreten hatten. Und das Außergewöhnliche an diesem Ort war sicherlich, dass der Mensch, der dort verehrt wurde und zu dem auch wir gepilgert waren, dass also dieser Mensch noch lebendig war, dass man ihn sehen und anfassen konnte, diesen Heiligen in seiner blütenweißen Kochmontur, die er wahrscheinlich nur zum Duschen und Schlafengehen auszog. Auch für meine Frau war es ein einzigartiges Erlebnis, von dem ich sie noch viele Jahre in Gesellschaft oder am Telefon erzählen hörte. Sogar das fünfgängige Menu inklusive Amuse-Gueule und Digestif haben wir besser als jedes Gedicht noch Jahre danach aufsagen können.“
Zum ersten Mal in unserer gemeinsamen Zeit in Krankenzimmer 23 habe ich das Gefühl, einem jungen Mann zu begegnen, der mir von einer kostbaren Erinnerung vorschwärmt. Die Augen des Profs strahlen mich an, seine Gesten und die Bewegungen seiner Arme sind mitunter ausladend und erzählen eine eigene Geschichte und der Klang seiner Stimme war noch nie so gefühlvoll, geradezu inbrünstig, wie bei dieser Schilderung einer großen Kostbarkeit aus seinem Leben.
„Zum Entrée gab es damals eine Miesmuschelsuppe, eine ‚Soupe de moules de bouchot aux pistils de safran‘, und dann als zweiten Gang ein ‚Fricassée de homard avec des coquilles Saint-Jacques‘, also ein Hummerfrikassée mit Jakobsmuscheln. Das alles war so köstlich und so wunderbar zubereitet, dass wir fast ein schlechtes Gewissen hatten, weil wir diese kulinarischen Kunstwerke mit Löffel, Gabel und Messer regelrecht zerstörten, und ich weiß noch genau, dass wir uns beim Essen alle Zeit er Welt ließen, um so intensiv wie nur möglich dieses köstliche Menu zu genießen.“
Spätestens jetzt hätte ich Professor Odenthal eigentlich von meinem ganz ähnlich verlaufenen ersten Bocuse-Erlebnis berichten können, aber ich wollte ihn in seinem glücklichen Erzählen nicht unterbrechen. „Beim Hauptgang, zu dem der Chef persönlich an unseren Tisch kam, waren wir zunächst ein wenig unsicher, denn es wurden uns zwei Tauben serviert, genauer Brust und Schenkel mit einem Blätterteig, gefüllt mit Entenleber und Trüffelpilzen, ‚Pigeon de Bresse en feuilleté au foie gras et aux truffes‘ stand auf der Karte, und obwohl das alles vorzüglich auf dem Teller arrangiert war, blieben wir doch skeptisch, weil wir eine Taube bisher als ein liebgewonnenes Tier, als Brief- oder auch als Friedenstaube wahrgenommen hatten. Doch Paul Bocuse, der unsere Unsicherheit bemerkt haben musste, setzte sich zu uns an den Tisch und erläuterte uns, dass das Geflügel aus der Region ‚Bresse‘ nordöstlich von Lyon allgemein als eine geschützte Spezialität gelte, vergleichbar dem Champagner, der bekanntlich aus der historischen Provinz, der ‚Champagne‘ kommen muss. Am bekanntesten unter dem Bresse-Geflügel sei zweifellos das ‚Bressehuhn‘. In Deutschland würden weiße Wirtschaftshühner dieser Rasse wegen der geschützten Ursprungsbezeichnung und ihrer auffälligen blauen Beine auch als Les Bleues vermarktet. In ihrem weißen Gefieder zeigten Bressehühner mit dem roten Kamm und ihren blauen Läufen die Nationalfarben Frankreichs. Wir konnten in Monsieur Bocuse‘ Stimme einen feinen Hauch von französischem Nationalstolz hören, auch als er fortfuhr, dass die Bresse-Taube, die ebenfalls zur speziellen Zucht des Bresse-Geflügels gehöre, in seiner Küche eine der besonderen Spezialitäten sei, mit der er nun hoffe, uns eine kulinarische Freude zu machen.“
Der Professor räuspert sich kurz. Einen solch ausladenden Vortrag hat er mir selbst bei seinem großen ‚Rachmaninowitsch‘ nur selten gehalten. „Meine Frau und ich hatten Herrn Bocuse nahezu andächtig gelauscht, und nach seiner ausführlichen Präsentation des Hauptganges blieb unseren Gaumen ja gar nichts anderes möglich, als dieses besondere Menu bis ins Detail zu genießen.“
Ich höre ihm gerne zu, diesem Professor aus der Welt meiner Eltern, und bin ehrlich gesagt ein bisschen stolz, dass ich diesmal, anders als bei seinen täglichen Rachmaninoff-Vorträgen, beim aktuellen Thema auf Augenhöhe bin. „Und nach dem ‚Bresse-Täubchen‘ gab es dann auf der Menu-Karte sicher noch „Une sélection de fromages frais et affinés ‚Mère Richard“, oder?!“
Ich blicke in ungläubige Augen und sehe den Kopf von Professor Odenthal, der wortlos mehrmals vor sich hin nickt. „Woher wissen Sie das, Marcel?“
Und dann erzähle ich ihm die lange Geschichte von meiner ersten Bocuse-Begegnung, von meiner speziellen ZDF-Rubrik ‚Rendez-vous‘ während der Fußball-Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, in der ich bekannte französische Persönlichkeiten vorstellte und sie zu ihren Eindrücken von der WM befragte. Einer dieser Promis war auch Paul Bocuse, und ich durfte ihn in Collonges besuchen, durfte neben ihm durch die von ihm organisierten Lyoner Markthallen rollen, in denen es alles, Hauptsache frisch!, für die moderne Küche zu kaufen gab, und konnte ihn schließlich sogar überzeugen, auf unsere mitgebrachte Sportstudio-Torwand zu schießen. Zum Schluss bestand er darauf, unser gesamtes Drei-Mann-Team in sein Restaurant einzuladen, und ähnlich wie beim Professor hatte sich mir das Menu damals tief eingeprägt.
„Paul Bocuse war für mich schon im ersten Eindruck ein ‚Monsieur Cent-pour-cent‘ ein ‚Mister Hundertprozent‘, einer, der restlos alles aus seinen Vorgaben und Möglichkeiten herausgeholt hat. Von dem weltbekannten Restaurantführer ‚Gault et Millau‘ wurde er zum ‚Koch des Jahrhunderts‘ gekürt. Der Jahresumsatz seiner weltweit etwa 20 Restaurants und einer Hotelanlage sowie seiner vielfältigen kulinarischen Produkte und Küchengeräte betrug 2012 knapp 50 Millionen Euro bei etwa 700 Beschäftigten. Ich kenne all diese Zahlen deshalb so genau, weil ich mich nach unserer ersten Begegnung immer mal wieder im Internet nach ihm umgeschaut habe.“
Ich muss einen Moment lang abbrechen, weil plötzlich Schwester Anna im Zimmer aufgetaucht ist, um unseren Blutdruck zu messen. Als sie nach dieser täglichen Prozedur kurz darauf wieder verschwindet, muss ich unbedingt noch eine Bocuse-Geschichte nachreichen.
„Ähnlich wie Sie, lieber Prof, habe ich eine für mich ganz besondere Frau einige Zeit danach ebenfalls mit einem Besuch in Collonges-au-Mont-d’or überrascht. Auch zu uns kam er in blütenweißer Kochmontur an den Tisch, und da ihm meine Begleitung augenscheinlich sehr gefiel, setzte er sich zu uns und flirtete mehr oder weniger schamlos mit einer jungen Frau, die ganz locker seine Tochter hätte sein können. Da sie kein Französisch sprach und sein Englisch kaum zu verstehen war, wurde ich als Dolmetscher benötigt. Ohne diesen Job hätte ich genau so gut draußen frische Luft schnappen und ein paar Telefonate führen können, ohne dass ihm mein Verschwinden aufgefallen wäre. Ich spreche hier vom ‚Mitbegründer der Nouvelle Cuisine‘, vom ‚Koch des Jahrhunderts‘, der es seiner Rolle eigentlich doch schuldig wäre, sich öffentlich souveräner und höflicher zu verhalten, oder?!“
Der Professor schaut mich ungläubig, mindestens skeptisch an und schüttelt mit dem Kopf.
„In diesem Zusammenhang, lieber Professor Odenthal, habe ich noch ein paar interessante Zahlen aus der Biografie von Monsieur Bocuse, die Ihnen vielleicht noch nicht bekannt sein werden. Bocuse war ein echter Lebemann, ein moderner Bohémien, der im wahrsten Wortsinn ‚nichts anbrennen ließ‘, auch bei Frauen nicht. Über mehrere Jahrzehnte hinweg hatte er drei Partnerinnen, mit einer der Dreien war er immerhin verheiratet, und geradezu konsequent hatte er mit jeder der Frauen genau ein Kind. Gemeinsam mit seiner jüngsten Tochter hat er im Jahr 2005 dann übrigens auch seine Mémoiren geschrieben, mit dem Titel ‚Le feu sacré‘, zu Deutsch ‚Das heilige Feuer‘! Und diese drei Wörter, finde ich, sagen viel mehr als tausend andere. Als ich ihn zum letzten Mal in Collonges besucht habe, ich war damals für das ZDF wegen der ‚Leichtathletik-Weltmeisterschaften für Menschen mit Behinderung‘ einige Tage im nahen Lyon, war ihm seine schwere Krankheit, er litt am ‚Parkinson-Syndrom‘, schon deutlich anzusehen. Trotzdem hatte er noch zwei große schwarze Labrador-Hunde, die ihn in seiner Wohnung derart wild umsprangen, dass man um das Herrchen fast Angst haben musste. Musste man aber nicht, ich glaube im Gegenteil, dass man sich um Paul Bocuse niemals ernsthaft Sorgen machen musste. Irgendwie war er fast immer zur rechten Zeit am rechten Ort. Er hat, wie schon gesagt, das Beste aus seinen Vorgaben gemacht. Als er dann kurz vor seinem 92. Geburtstag im Januar 2018 starb, platzte die Kathedrale von Lyon beim anschließenden Begräbnis nahezu aus ihren Fugen. Neben Gesichtern aus Politik und Showbiz erwiesen Bocuse mehr als 1500 seiner Berufskollegen in ihren weißen Kochjacken die letzte Ehre. Zum Ausklang der Trauerfeier intonierte die Orgel der Kathedrale sein Lieblingslied, Edith Piafs unsterbliches ‚Non, je ne regrette rien‘, und wohl nur ganz selten hat ein Todestext so haargenau gepasst wie in diesem Fall.“
Ich halte inne und bin fast ein wenig erschöpft von meinem Vortrag. Wann habe ich das letzte Mal so lange geredet?
Aber der Professor hat gerne zugehört, das sehe ich ihm an. Als kurz darauf Jochen mit dem Mittagessen ins Zimmer stürmt, müssen wir beide grinsen. In sein fragendes Gesicht erklärt ihm der Prof, dass wir uns gerade über Paul Bocuse unterhalten hätten, den ‚Koch des Jahrhunderts‘, gegen den die Küche der Klinik auf seinem Tablett nur verlieren könnte.
Wie eigentlich immer ist Jochen um keine Antwort verlegen. „Na klar, Herr Professor, da haben Sie selbstverständlich recht. Aber so schlimm wie Herrn Bocuse wird es Ihnen bei unserem Klinik-Mittagessen sicher nicht ergehen.“
Jochen grinst verdächtig lange, und ich tue ihm den Gefallen zu fragen. „Na los, Jochen, jetzt sind wir natürlich gespannt wie Drahtseile auf Ihren Beitrag zu unserer Unterhaltung. Ich erwarte ein echtes Humor-Highlight.“
„Das müssen Sie Beide natürlich selbst beurteilen“, erwidert der Pausenclown der Station Q2 und stellt mir mein Mittagessen auf den ausgeklappten Tisch, „ich kann Ihnen ehrlich gesagt sicher nicht viel Neues über Herrn Bocuse beibringen, aber vielleicht kennen Sie seine überlieferten letzten Worte noch nicht.“
Seine letzten Worte?! Ich muss spontan an die letzten Worte von Goethe denken, „Mehr Licht!“, soll er gesagt haben, oder an Cäsars „Auch du, mein Sohn Brutus!“, mehr ist in meinem bundesdeutschen Bildungsgut leider nicht hängengeblieben. Dann jetzt also, lieber Jochen, bitte meine dritten ‚letzten Promi-Worte‘.
Jochen strahlt, als wüsste es schon um unsere Reaktion, und genießt sichtlich die im Raum spürbare Spannung.
„Bei einem Abendessen“, beginnt er dann, schon wieder im Weggehen, „soll Monsieur Bocuse nach den ersten Bissen gesagt haben: „Wisst ihr was, das schmeckt aber komisch!“
Der Professor schaut zuerst in Jochens, dann in mein Gesicht und beginnt plötzlich herzzerreißend zu lachen. So impulsiv, so aufgedreht, ja fast überschwänglich habe ich den Prof noch nie zuvor erlebt. Er lacht jetzt tatsächlich Tränen, und während Jochen glücklich die Zimmertür hinter sich schließt, bin ich einmal mehr beeindruckt von dem und dankbar für das, was ein guter Witz bei uns Menschen auslösen kann. Noch beim Nachtisch muss der Prof zwischen zwei Bissen gelegentlich lachen, und ich bin überzeugt davon, dass Paul Bocuse jetzt gerne mit uns gelacht hätte.